Neue Qualität der Proteste im Iran

Iranische Demonstranten nach dem Abschuss der ukrainischen Zivilmaschine nahe Teheran im Januar 2020

Zusammenfassung eines Artikels von Peykeiran vom 13.1.2020

Wir werden im Iran erneut Zeugen von Protesten gegen die Regierung. Zwei Monate nach den massiven und blutigen Protesten im November könnten sie die am weitesten verbreiteten Proteste in der 40-jährigen Geschichte der Islamischen Republik sein. Sie erstrecken sich auf die meisten Provinzen des Landes und geben Einblicke in das Verhalten der Demonstranten und das Vorgehen der Regierung gegen Demonstranten.

1. Reduktion der Abstände großer Proteste gegen die Regierung von früher alle 10 Jahre auf jetzt alle 2 Monate

Der Abstand zwischen den Protesten, die nach dem Angriff auf Studentenwohnheime folgten, und den nächsten größeren Protesten, nämlich den Protesten nach den Präsidentschaftswahlen 2009, betrug 10 Jahre. Es dauerte dann weitere acht Jahre, bis zum Jahresende 2017, bis wieder ein großer Protest der Bevölkerung gegen die Regierung stattfand.

In Jahr 2019 gab es zwei große Proteste. Die November-Proteste, die aus Protest gegen steigende Benzinpreise begannen und schnell politischen und regierungsfeindlichen Charakter erlangten, kamen dann zwei Jahre nach den vorangegangenen Protesten. Die jetzigen Proteste vom 9. Januar finden nur zwei Monate nach den Novemberprotesten statt.

In den letzten Tagen nahmen die Abstände zwischen den Protesten der Bevölkerung gegen die Regierung weiter ab, und die Menschen protestieren nun fast ständig auf den Straßen. Wiederholte Proteste haben die Repressionskräfte gezwungen, fast ständig auf den Straßen zu sein. (Anm.: Allerdings sind die Proteste der letzten Tage noch von kleinerer Dimension als etwa 2009 oder 2019)

2. Ineffektivität der Terrortaktik durch Tötung einer großen Anzahl von Demonstranten im November

Die Proteste der Islamischen Republik lösten schnell direkte Schüsse gegen Demonstranten aus, aus Angst, die Proteste könnten sich ausweiten. In fünf Tagen wurden landesweit zwischen 300 und 1.500 Demonstranten getötet.

Einige Analysten waren der Ansicht, dass die Regierung schnell Waffen und sogar Kriegswaffen gegen die Demonstranten einsetzte, um die Proteste einzuschüchtern und um zu vermeiden, dass sie sich wiederholen.

Die jüngsten Proteste gegen die Regierung zeigen allerdings, dass selbst wenn die Regierung die Taktik der Einschüchterung anwendete, diese bei den Demonstranten nicht gut funktionierte und sie nicht daran hinderte, auf die Straße zurückzukehren.

3. Die Forderungen zum Rücktritt des Religiösen Führers Ali Chamene’i konnten nicht unterdrückt werden, obwohl die Unterzeichner verhaftet wurden

Eine Reihe von politischen und sozialen Aktivisten forderte den Rücktritt von Ali Chamenei, dem Führer der Islamischen Republik, im Jahr 2019. Die wichtigsten Unterzeichner wurden festgenommen, in der Hoffnung, die Forderung zum Rücktritt der Führung, unterdrücken zu können.

Ein Blick auf die wichtigsten Parolen der Demonstranten in den letzten vier Tagen in verschiedenen Städten zeigt, dass Ayatollah Chamene’i als Führer und Oberbefehlshaber und somit letztlich Verantwortlicher für den Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs und der Ermordung von 176 unschuldigen Zivilisten, zurücktreten muss.

Die Festnahme von 11 angeblichen Schuldigen und der Prozess gegen sie, verhindert nicht, dass die Demonstranten den Rücktritt fordern, sondern machen ihn sogar zu einem zentralen Schlagwort der Demonstranten.

4. Revolutionsgarden und deren Spezialeinheiten bei der Unterdrückung von Demonstranten

Wie bei früheren Protesten ging der Schwerpunkt der Unterdrückung von Polizeieinheiten, Bassidschi und Revolutionsgarden aus. Ihr Hauptquartier (Sarallah) lag in Teheran und stand unter dem Kommando von Brigadegeneral Mohammad Kosari.

Die Erfahrungen mit den Verhaftungen im November zeigten, dass sich sowohl der Geheimdienst der Revolutionsgarden als auch das Geheimdienstministerium bzgl. des Umgangs mit den Demonstranten – trotz Meinungsverschiedenheiten – im Wesentlichen einig waren. Viele der Verhaftungen während und nach den Protesten im November wurden gemeinsam von den beiden Geheimdiensten durchgeführt. Mindestens 8.000 unbestätigte Personen sind noch in Haft.

5. Untersuchungen zeigen uns, dass bei der Zusammensetzung der heutigen Demonstranten die Studierenden überwiegen

Zur Zeit der November-Proteste betonten viele Analysten dass sich die Proteste meist aus „Armen“ sowie aus Milieus von „Geringverdienern und Ausgegrenzten“ speisten. Jetzt sind die Proteste aber von Universitäten ausgegangen, insbesondere von den beiden Universitäten Amir Kabir und Sharif, die als politische Universitäten bekannt sind. (Anmerkung: Unter den Opfern des abgeschossenen Zivilflugzeugs befanden sich viele Studierende, die wiederum früher an diesen beiden Universitäten studiert hatten)

Quelle. https://www.peykeiran.com/Content.aspx?ID=198479