Ali Schirasi ist so etwas wie die Stimme des oppositionellen Iran in Konstanz. Seit 1988 lebt der Mathematiklehrer und Schriftsteller am Bodensee. Im großen Interview spricht er über die Qualen der Folter und den langen Weg zu mehr Mut


Herr Schirasi, was bedeutet für Sie Mut?

In verschiedenen Phasen meines Lebens hatte Mut jeweils andere Bedeutungen. Ich bin in einem kleinen iranischen Dorf groß geworden, in dem die Bauern schweigen mussten und nichts gegen den Dorfbesitzer sagen durften. Ich war einer der ersten dieser Bauern, die zu einer Schule gehen durften. Dort habe ich gelernt: Man muss Missstände kritisieren, man darf nicht schweigen. Deswegen habe ich angefangen Dinge zu hinterfragen: Warum müssen wir so viel arbeiten? Wir arbeiten 60 Prozent für den Dorfbesitzer, 40 Prozent für uns – das ist doch nicht gerecht.

Mut entsteht durch die Erfahrung von Ungerechtigkeit?

Ja, in gewisser Weise. Auch meine Eltern hatten Mut: Sie haben mich auf eine normale Schule geschickt und nicht wie üblich auf eine Koranschule. Dafür mussten sie später das Dorf verlassen. Für diesen Mut bin ich ihnen noch heute dankbar.

Ist Bildung der Schlüssel, um Mut zu fördern?

Bildung ist wichtig, um Wissen zu bekommen. Das gibt einem ja erst die Fähigkeit, Dinge zu hinterfragen und Mut zu beweisen. Ich habe immer für meine Ausbildung gekämpft. Um auf ein Internat in Teheran zu können, habe ich drei Monate auf Honigmelonen-Feldern gearbeitet. Meine Eltern waren dagegen, weil es eine sehr anstrengende und gefährliche Arbeit war. Ich wollte das aber unbedingt. Ich habe früh morgens gearbeitet bis es dunkel wurde, erst danach konnte ich mich auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten: Algebra, Geometrie, Physik, und so weiter. Ich habe unter einem Moskitonetz im Schein einer Öllampe gelernt, von 2000 Bewerbern konnten nur 100 Teilnehmer bleiben, ich bin am Ende unter die besten sechs gekommen.

Sie haben es dann bis zum Mathematiklehrer geschafft.

Ja. Ein paar Monate vor meinem Abschluss hat mich der damalige iranische Bildungsminister ins Gymnasium geschickt, weil es so wenig Mathematiklehrer damals gab. Dann habe ich angefangen zu unterrichten an einer Mädchenschule. Da habe ich noch mal erlebt wie schlecht es dem Land geht: 85 Mädchen saßen da in zerrissener Kleidung, das war ein sehr schlimmer Moment für mich. Ich habe nicht verstanden, warum es so viel Armut in unserem Land gibt, wenn wir doch so große Ölreserven bei uns haben. Gleichzeitig habe ich an einer Privatschule unterrichtet und da war das alles kein Problem, einige Schülerinnen hatten da einen Mercedes. Es hat mich verrückt gemacht, diese Unterschiede zu ertragen.

Wie haben Sie mit diesem Zwiespalt gelebt?

In der Universität gab es eine linke Studentengruppe im Untergrund. Irgendwann dachte ich: es muss eine Revolution organisiert werden. Dann habe ich mich der Gruppe angeschlossen. Von diesem Moment an hatte ich zwei Gesichter: Als normaler Lehrer und gleichzeitig privater Revolutionär.

Wann sind Sie aktiv geworden?

1975 bin ich mit meiner Frau nach London gegangen. Offiziell waren wir als Touristen dort. Aber es gab damals auch eine Sitzung von Exil-Iranern in London. Daran habe ich teilgenommen. Bis 1975 habe ich gedacht, wie Che Guevara, wir müssen eine bewaffnete Revolution organisieren. Aber in London habe ich öffentlich gesagt: Es ist falsch, mit Waffen gegen den Schah zu kämpfen. Es muss einen politisch-kulturellen Umsturz geben – ohne Waffen.

Wie offen konnten Sie das damals kommunizieren?

Gar nicht. Alles lief im Untergrund. Unser Problem war, dass in der Zeit, in der wir durch Europa reisten, eine wichtige Person für uns im Iran in einer Fabrik festgenommen worden war. Er hatte dort einen Streik angezettelt. Neun Tage konnte er Folterungen ertragen, dann hat er alles erzählt. Auch von unserer Reise. Das wussten wir aber nicht. Als wir nach der Reise an die iranisch-türkische Grenze kamen, waren plötzlich überall bewaffnete Polizisten. Sie haben uns sofort ins politische Gefängnis von Teheran geschickt. Wir wurden verhört und sie haben nach den Gesprächen mit den Exil-Iranern gefragt. Mit wem haben Sie gesprochen? Mit wem haben Sie politischen Kontakt? Dann kam eine wirklich schlimme Zeit.

Sie wurden gefoltert?

Ich wollte nichts sagen. Und dann kamen die Folterer. Sie haben mich mit Fäusten geschlagen, etliche Knochen haben sie zerbrochen. Ich wurde bewusstlos. Erst im Krankenhaus bin ich wieder aufgewacht. Auch hier kamen die Folterer immer wieder nachts um 23 Uhr und haben versucht mich auszuquetschen, sie wollten weitere Informationen von mir und ich bin immer wieder bewusstlos geworden. Mehrere Monate konnte ich kaum richtig essen. Ich habe gedacht, ich würde sterben, aber ich wollte meine Informationen nicht preisgeben. Irgendwann hat der Folterer gesagt, okay, wir haben genug Informationen. Wir werden dich vors Militärgericht stellen. Zehn Jahre Gefängnisstrafe habe ich bekommen.

Während Sie im Gefängnis waren, zettelte Chomeini seine Revolution an. Wie ging es danach weiter?

Alle politischen Gefangenen wurden freigelassen. Im ersten Jahr nach der Revolution war noch alles frei, die neue Regierung wollte sich erstmal konstituieren und organisieren. Es gab ein politisches Vakuum, jeder versuchte sich zu stärken. Wir haben uns aber damals schon gesagt, es kommt nun ein religiös-faschistisches System. Wer Chomeinis Schrift „Die islamische Regierung“ gelesen hatte, konnte nur zu dem Schluss kommen. Deswegen sind wir im Untergrund geblieben. Das Problem war, viele linke Gruppen waren nicht richtig informiert, sie haben den Koran und die Scharia nicht richtig gelesen. Sie haben geglaubt, Chomeini ist Anti-Imperialist, und haben sich auf seine Seite geschlagen. Das war ein Fehler. Unsere Gruppe ist geheim geblieben und trotzdem bin ich in einer Nacht festgenommen worden. Das war 1982. Vier Tage und Nächte wusste ich nicht, wo ich bin. Da wurde ich stark gefoltert, und in dem berüchtigten Ewin-Gefängnis war es noch schlimmer.

Was ist da passiert?

Peitschenhiebe, Schläge auf Füße und Hände – das gehörte zum täglichen Geschehen. Bei einer besonderen Art der Folterung musste man auf dem Bauch liegen, die Hände wurden verbunden, auch die Füße, es war wie eine menschliche Schaukel in einem Bett ohne Lattenrost. Der Folterer hat ins Rückgrat gedrückt und getreten, dazu gab es elektrische Schocks und immer wieder wurde ich gefragt: Sagst du es oder nicht? Ich bin vier Mal so gefoltert worden. Es gab Menschen. die wurden so bis zu zehn Mal gefoltert. Sie sind alle gestorben. Ich glaube, ich bin nur deshalb nicht getötet worden, weil sie sich weitere Informationen von mir erhofft hatten. Sie haben vielleicht geglaubt, wenn ich draußen bin, können sie mich weiter beobachten und so weitere Informationen bekommen. Und das funktioniert heute noch so, so geht das Regime im Iran immer noch mit politischen Gefangenen um.

Wie haben Sie, bei allem was Sie erlebt haben, dennoch nie den Mut verloren?

Es hat wirklich mit der psychischen Verfassung zu tun. Ich hatte alle meinen Schülern gesagt: Wir müssen für unsere Ziele einstehen. Wenn wir festgenommen werden, dann müssen wir die Folter aushalten, egal was kommt. Wir müssen weitermachen, es muss nicht unsere Generation glücklich werden. Wenn wir einen demokratischen Wechsel wollen – und das war damals das Ziel – dann ist es auch okay, wenn erst eine unserer nächsten Generationen von unserem Einsatz profitiert. Das habe ich immer im Kopf gehabt.

Das eigene Leben hat keine Rolle mehr gespielt?

Was bedeutet das Leben? Klar, man kann den Folterern alles sagen, was sie wissen wollen, und kommt raus aus dem Gefängnis. Aber was ist das dann für ein Leben? Man ist draußen, hat aber doch keinen Wert mehr, weil man alles verraten hat, woran man geglaubt hatte. Dann habe ich gedacht, wenn 300 Menschen draußen bleiben von meinen politischen Freunden und weiter an dem Umsturz arbeiten können und ich hingerichtet werde, ist es das wert. So ging es in meinem Kopf hin und her und ich habe mich letztlich dafür entschieden, nichts zu sagen. Da war klar: Ich muss weitergehen. Ich wusste, dass meine Schüler mich beobachten. Wenn ich vorangehe und weitermache, dann bleiben auch sie dabei. Wenn ich Probleme habe und mich zurückziehe, dann geben vielleicht auch sie auf. Und das wollte ich auf keinen Fall. Ich musste einfach meinen Mut behalten.

Hatten Sie niemals Angst?

Angst schon. Aber ich wusste, dass es richtig ist, in diese Richtung zu gehen.

Fragen: Michael Lünstroth

Südkurier, 10.11.2010

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..