Am Freitag wählt der Iran ein neues Parlament. Der am Bodensee lebende Exil-Schriftsteller Ali Schirasi spricht im Interview über die Lage in seinem Land.

Herr Schirasi, in der arabischen Welt gibt es Aufstände, überall werden Diktatoren verjagt. Warum hält sich das Regime im Iran so lange?

Nach der Wahlfälschung 2009 gingen im Iran Millionen Menschen auf die Straße. Viele wurden festgenommen, gefoltert und hingerichtet. Viele sind bis heute im Gefängnis. Das ganze Land ist wie eine Kaserne. Dazu kam es zu einer Spaltung zwischen den Reformisten um Mussawi und Karubi und den Studenten. Die Menschen sind müde geworden. Ein großer Teil wartet immer noch. Ein kleiner Teil ging in den Untergrund. Er ist immer noch aktiv.

Wie weit hat das Regime die Lage unter Kontrolle?

Die Regierung hat alles, Militär, Polizei, Geheimdienst, Waffen. Aber sie hat nicht die Bevölkerung. Die Bevölkerung ist extrem unzufrieden und die Studenten wissen das. Sie haben die Kraft, die Regierung hat nur das Militär. Deswegen haben die Machthaber Angst. Sie haben Angst vor dem Volk.

Der Aufstand kann also noch kommen?

Auf jeden Fall. Ein Teil der Regierung in Teheran sagt selber: Wir brauchen Reformen. Aber dann kommen die Anhänger von Präsident Ahmadinedschad und Khomeini. Sie lassen keinerlei Kritik zu. Sie fühlen sich wie in einem U-Boot. Wenn man da ein Fenster aufmacht, und sei es noch so klein, steht sofort alles unter Wasser. Das Regime kann nicht nachgeben, weil sonst alles außer Kontrolle gerät.

Was heißt das im Alltag? Wie muss man sich das Leben unter dem Regime vorstellen? Ähnlich wie in Nordkorea?

Nein, auf keinen Fall. Natürlich genießt die Regierung keinerlei Vertrauen. Aber die Menschen machen darüber Witze. Die Bevölkerung lacht die Machthaber aus. Über jede Peinlichkeit von Ahmadinedschad informieren sich die jungen Leute per SMS.

Ist das nicht gefährlich? Die Geheimdienste sind doch allgegenwärtig?

Das ist vorbei. Die Regierung lässt ein paar Ventile offen, damit die Bevölkerung Dampf ablassen kann. Im Bus, auf den Plätzen sagen die Menschen offen, was ihnen nicht passt, ohne Angst. Die Regierung konzentriert sich darauf, dass sich keine organisierte Opposition herausbildet, dass sich niemand gegen sie formiert.

Und wenn doch? Wie geht es den Oppositionellen, wie geht es den Menschen, die inhaftiert wurden?

Die Menschenrechtslage ist sehr, sehr kritisch. Die Zahl der Hinrichtungen nimmt zu. Besonders gefährdet sind die Journalisten. Wer zum Beispiel Weblogs schreibt, ist in Gefahr. Die Regierung versucht mit aller Macht, sie ausfindig zu machen und festzunehmen. Ihnen drohen lange Gefängnisstrafen, also müssen sie aufpassen. Viele Bürger im Iran haben daher zwei Gesichter. Auf der Straße, auf den Behörden oder in der Moschee benehmen sie sich neutral und unauffällig, zu Hause sind sie ganz anders.

Im Iran wird am Freitag ein neues Parlament gewählt. Wie demokratisch sind diese Wahlen?

Nach dem iranischen Grundgesetz darf für die Wahlen nur kandidieren, wer die Herrschaft des Rechtsgelehrten, also der Ajatollahs, akzeptiert. Egal ob er armenischer Christ, Baha’i oder Sunnit ist. Als zweiter Filter entscheidet der Wächterrat, ob ein Kandidat tatsächlich zugelassen werden darf, selbst wenn er sich selbst zu diesem System bekennt. Nur, wer dann übrig bleibt, darf gewählt werden. In einer Demokratie hätte das Volk das Recht, selbst zu bestimmen, welchen Kandidaten es die Stimme gibt.

Hat sich im Land in Sachen Religionsfreiheit etwas verbessert?

Im Gegenteil. Der Iran versteht sich als schiitischer Staat. Für alle anderen ist die Menschenrechtslage in den vergangenen Jahren spürbar schlechter geworden, besonders für Sunniten und Baha’i. Die Sunniten dürfen in Teheran nicht einmal eine eigene Moschee haben.

Sie haben als Oppositioneller den Iran noch unter dem Schah-Regime erlebt. Wie war der Schah im Vergleich zu den Machthabern von heute? Lässt sich das vergleichen?

Ich war unter dem Schah im Gefängnis. Ich wurde gefoltert und musste deswegen anschließend sechs Monate ins Krankenhaus. Aber: Im Vergleich zu dieser Regierung war der Schah ein Gentleman.

Der arabische Frühling macht freie Wahlen möglich. Die Mehrheit der Wähler entscheidet sich aber nicht für die Demokraten, sondern für die Islamisten. Beängstigt Sie diese Entwicklung? Auf den Sturz des Schah im Iran folgte ja auch eine neue Diktatur, die Diktatur der Religiösen.

Natürlich wünsche ich mir, dass niemand das durchmachen muss, was die Iraner unter der Diktatur der Geistlichen seit 30 Jahren erleben müssen. Aber es ist genauso klar, dass auch die Sunniten Erfahrungen sammeln müssen, um sich bewusst zu machen, dass eine „Gottesherrschaft“ nicht die politischen und gesellschaftlichen Probleme des Alltags lösen kann. Vielleicht gelingt es den Muslimbrüdern, eine politische Partei in der Art der türkischen AKP zu werden, die zwar verschiedene islamische Strömungen in sich vereinigt, aber bis heute keine religiöse Diktatur errichtet hat, auch wenn die zahlreichen Verhaftungen der letzten Monate sehr zu denken geben. Sollten die Muslimbrüder dagegen radikale Lösungen verfolgen, wird auch die Bevölkerung in Ägypten feststellen, dass dies keine Arbeitsplätze schafft.

Wie soll sich der Westen verhalten?

Europa sollte nicht die Fehler wiederholen, die es gegenüber dem Iran nach der Revolution an den Tag gelegt hat. Für Europa war der Iran als Absatzmarkt wichtiger als die Einhaltung der Menschenrechte, weshalb es auch nie eine gemeinsame Außenpolitik mit den USA in dieser Frage gab. Der Westen sollte die Lage in Ägypten mit seinen Institutionen vor Ort verfolgen und sofort protestieren – auch über die Botschaften, wenn demokratische Freiheiten unterdrückt oder Menschenrechtsgruppen oder religiöse Minderheiten – ob Juden oder Kopten – verfolgt werden.

Der Westen diskutiert über den Iran hauptsächlich unter dem Aspekt der Atombombe. Für wie realistisch halten Sie die Gefahr? Übertreiben wir sie?

Ein Teil der Regierung glaubt an die Atombombe. Diese Gruppe will die Atombombe, weil sie glaubt, dass sie dann in der Auseinandersetzung mit Israel und den USA über größere Druckmittel verfügt. Sie denkt strategisch.

In den USA und in Israel gibt es Überlegungen, den Iran militärisch anzugreifen, um die atomare Gefahr abzuwenden. Was halten Sie davon?

Es wäre ein Fehler. Den Iran militärisch anzugreifen, hilft niemand. Wir haben die Erfahrung im Irak, wir haben die Erfahrung in Afghanistan. Der Iran würde bei einer solchen Intervention zerrissen und in seine Einzelteile zerlegt. Belutschistan, Aserbaidschan, Kurdistan, dazu der Gegensatz zwischen Persern und Arabern – die Gegensätze zwischen den einzelnen Regionen und Bevölkerungsgruppen sind riesig. Wenn Krieg kommt, bricht das alles auf, so wie in Ex-Jugoslawien.

Ist ein militärischer Sieg überhaupt möglich?

Ich sage dazu nur soviel: Im Iran gibt es Kasernen, in denen Menschen systematisch zu Selbstmord-Attentätern ausgebildet werden – auch Frauen. Sie bekommen eine Koran-Ausbildung, aber auch eine Waffen-Ausbildung.

Gibt es einen anderen Weg?

Natürlich. Zum Beispiel, indem man die iranische Opposition im Ausland stärker unterstützt. Die Schweden haben Exil-Iranern die Möglichkeit gegeben, sich zu einer großen Konferenz zu treffen. Die Polizei hat das Treffen abgesichert.

Die Europäische Union hat Sanktionen gegen den Iran beschlossen. Was halten Sie davon?

Das bringt vieles in Bewegung. Die Sanktionen binden der Regierung die Hände. Man darf nicht vergessen, dass die iranische Wirtschaft in den Händen der Regierung ist, vom Öl bis zum Handel. Die Sanktionen erschweren es den Machthabern, ihre Anhänger zu finanzieren. Sie werden geschwächt.

Präsident Ahmadinedschad leistet sich immer wieder antisemitische Ausfälle, er droht mit der Vernichtung Israels. Glaubt er das selber? Oder ist das nur Gerede?

Nichts von dem, was Ahmadinedschad sagt, ist Gerede. Er denkt wirklich, dass die ganze Welt islamisiert und Israel vernichtet werden muss. Er ist ein faschistischer Mensch.

Quelle: Südkurier, 1.3.2012