Iran nach dem Flugzeugabschuss

Demonstration an der Pole Hafez (Hafis-Brücke) in Teheran


Vergangenen Mittwoch, den 8. Januar 2020, wurde im Iran ein ukrainisches Passagierflugzeug abgeschossen. Dabei kamen 176 Menschen ums Leben, keiner überlebte den Absturz. Unter den Toten befanden sich zahlreiche iranische Studenten, die in Kanada studieren und die in der Ukraine in ein Flugzeug umgestiegen wären, das nach Kanada flog.
Die amtlichen iranischen Stellen behaupteten erst, das Flugzeug sei aufgrund eines Motordefekts abgestürzt, was von ukrainischer Seite dementiert wurde. Ein paar Tage später kam ans Licht, dass die Revolutionswächter (Sepahe Pasdaran) das Flugzeug mit einer Rakete abgeschossen hatten. Dies wurde auf einen „menschlichen Fehler“ zurückgeführt.
Diese Erklärung löste im Iran am Samstag Proteste an zahlreichen Universitäten im ganzen Land aus. Am Sonntag kam es auch zu Kundgebungen in den Städten außerhalb des jeweiligen Uni-Geländes. Die Proteste hielten auch am Montag noch an. Straßenproteste gab es unter anderem in Teheran, Maschhad, Ahwas, Isfahan, Tabris, Gorgan, Sanandadsch, Kermanschah, Schiras, Qaswin, Semnan, Damghan, Yasd, Scharud, Amol und Babol.
Um zu verhindern, dass sich Menschen der Protestkundgebung am Freiheitsplatz (Meydane Azadi) in Teheran anschließen, haben die bewaffneten staatlichen Kräfte die entsprechenden Metroausgänge geschlossen und die Züge am Halt gehindert, so dass die Passagiere in der Metro gefangen waren.

Protestkundgebung in der Ostad-Mo’in-Straße in Teheran

Die Parolen
Wenn im folgenden vom „Führer“ die Rede ist, ist damit der Religiöse Führer Ajatollah Chamene’i gemeint, der als Staatsoberhaupt, Oberhaupt der Streitkräfte und als Vertreter der „Herrschaft des Rechtsgelehrten“ formal sämtliche Macht auf sich vereinigt.

Die Parolen, die auf Kundgebungen in Teheran gerufen wurden, lauteten z.B.
«ننگ ما، ننگ ما، رهبر الدنگ ما»
nange ma, nange ma, rahbar aldange ma.
Unsere Schande, unsere Schande, ist unser Depp von Führer.

«کشته ندادیم که سازش کنیم/رهبر قاتل رو ستایش کنیم»
koshte nadadim ke sazesh konim / rahbare qatel ro setayesh konim
Wir haben keine Menschenleben geopfert, um uns abzufinden und den mörderischen Führer zu preisen.

«ایرانی با غیرت/ حمایت حمایت»
irani ba gheyrat, hemayat, hemayat
Iraner, wenn du Ehre besitzt,
unterstütze uns.

In Sanandadsch rief man u.a.:
«نان، کار، آزادی، حکومت شورایی»
nan, kar, azadi,
hokumate shouravi
Brot, Arbeit, Freiheit,
eine Räte-Regierung.

In Schiras hieß es unter anderem:
«این ماه ماه آخره، سیدعلی وقت رفتنه»
in mah mahe axar-e, seyyed-ali waqte raftan-e
Dieser Monat ist der letzte Monat,
Seyyed Ali (Chamene’I), es ist Zeit zu gehen
(an den religiösen Führer gerichtet)

In Maschhad gegenüber dem Parke Mellat (Volkspark):
«توپ، تانک فشفشه/ آخوند باید گم بشه»
tup, tank, feshfeshe / axund bayad gom beshe.
Kanonen, Panzer, Raketen / die Geistlichen müssen verschwinden.
und:
«نخبه‌هامون را کشتند، به جاش آخوند گذاشتند»
noxbehamun-ra koshtand, be jash axund gozashtand
Unsere Elite haben sie umgebracht und an ihre Stelle die Geistlichen gesetzt.

An der Uni in Tabris:
«مرگ بر ستمگر، چه شاه باشه چه رهبر»
marg bar setamgar, che shah bashad che rahbar.
Tod dem Unterdrücker, egal ob Schah oder Führer.

In Semnan:
«جمهوری اسلامی نمی‌خواهیم نمی‌خواهیم»
jomhuriye eslami nemixahim nemixahim
Wir wollen keine Islamische Republik.
«رفراندوم رفراندوم تنها راه نجات ایران»
„Referendum, Referendum, das ist die einzige Rettung für den Iran.

In Qaswin
«فرمانده کل قوا/استعفا استعفا»
farmandehe kolle qawa / estefa, estefa.
Befehlshaber der gesamten Streitkräfte, Rücktritt, Rücktritt.
(an Ajatollah Chamene’i)

An mehreren Unis in Teheran und Isfahan:
«سپاه بی‌کفایت/ عامل قتل ملت»
sepah bikefayat / amele qatle mellat
die Pasdaran taugen nichts / sie dienen nur dem Massaker am Volk
«دانشجو بیدار است/از سیدعلی بیزار است»
daneshju bidar ast / az seyyed ali bizar ast
Die Studenten sind wach / Seyyed Ali (der Führer) plagt sie.

In Isfahan wurde das Wesen des Regimes in einem Satz zusammengefasst:
«سپاه جنایت می‌کنه، رهبر حمایت می‌کنه»
sepah jenayat mikone, rahbar hemayat mikone.
Die Pasdaran begehen Verbrechen, der Führer schützt sie.

Die Pasdaran begehen Verbrechen, der Führer schützt sie
Politische Parolen haben in einem Land, in dem kritische Medien geschlossen und die Journalisten verhaftet, gefoltert oder ermordet werden, eine besondere Rolle.
Wer zu Lebzeiten des Gründers der Islamischen Republik, d.h. zu Zeiten von Ajatollah Chomeini, Parolen gegen den Führer rief, wurde hingerichtet. Nach dem Tod von Ajatollah Chomeini folgte Ajatollah Chamene’i als Religiöser Führer, der Vorgänger wurde für heilig erklärt und Parolen gegen ihn wie gegen den Nachfolger wurden ebenfalls drastisch verfolgt. Noch 2017 wurden Menschen, die auf den Demonstrationen Marg bar rahbar (Tod dem Führer) riefen, Islamisten mit Motorrädern gehetzt, die freie Hand hatten, diese Demonstranten zu überfahren. Viele wurden damals wegen dieser Parole verhaftet und in die übelsten Gefängnisse gesteckt.

Kommentar:

Parolen als Gradmesser der Angst

Dieses Mal war es das erste Mal, dass die Menschen Parolen gegen den Führer und die Pasdaran (Revolutionswächter) riefen, und das landesweit, aber trotz der Allgegenwart der bewaffneten Kräfte beschränkten sie sich diesmal auf den Einsatz von Tränengas, Warnschüsse und in Einzelfällen auf Schüsse auf die Füße. Mit anderen Worten, die politischen Parolen sind auch ein Gradmesser der Unterstützung, die die Machthaber noch in der Bevölkerung genießen, und ein Gradmesser, wie stark die Angst in der Bevölkerung und auf der Gegenseite ist. In der jetzigen Situation scheinen sich die bewaffneten Kräfte bewusst zu sein, dass ein schärferes Eingreifen gegen die zitierten Parolen die Stimmung so stark gegen sie selbst aufheizen könnte, dass sie selbst in Gefahr geraten.

https://www.radiofarda.com/a/30372730.html
vom 22. Dey 1398 (12.01.2020)
اعتراض‌ها به سرنگونی هواپیمای مسافربری توسط سپاه، به شهرهای مختلف ایران کشیده شد