Schweden – Iran: Gefangenenmassaker 1988 – Prozess gegen Hamid Nouri

Der Prozess gegen Hamid Nouri endete am Mittwoch, 4. Mai 2022

Die iranisch-sprachige Plattform von Voice of America berichtet über die 88. Sitzung des Gerichts gegen den nunmehr 61-jährigen iranischen Beamten Hamid Nouri, der beim Gefangenenmassaker von 1988 als stellvertretender Staatsanwalt eine wichtige Rolle im Gouhar-Dascht-Gefängnis gespielt haben soll. Hamid Nouri war 2019 in Schweden verhaftet worden, der Prozess gegen ihn wurde 2021 eröffnet.

Al-Jazeera berichtet in der englischen Plattform vom 2. Mai 2022 über die 89. Sitzung des Gerichts und die nunmehr zweite Intervention des iranischen Außenministeriums, um die Freilassung von Hamid Nouri einzufordern.

Zu Beginn der 88. Sitzung erklärte der zuständige Richter Thomas Sander, dass das Gericht Nachforschungen über Vorstrafen des Angeklagten angestrengt habe. Demnach sei er nicht vorbestraft.

Dann kam die Staatsanwaltschaft an die Reihe, die ihre Klageschrift in 6 Punkte gegliedert hatte.

1. Kam es im Sommer 1988 im Gefängnis von Gouhar-Dasht zu Hinrichtungen?

2. Ermittlung und Bestätigung der Namen von Hingerichteten.

3. Ermittlung und Bestätigung der Identität des Angeklagten.

4. Frage der Tatbeteiligung des Angeklagten an den Hinrichtungen.

5. Rechtliche Analyse des Verfahrens

6. Rechtliche Begründung der Verhaftung des Angeklagten und Strafvorschlag der StaatsanwältInnen an das Gericht

Die Staatsanwaltschaft geht auch auf die Gegenargumente des Angeklagten und seiner Verteidiger ein.

1. Infragestellung des Charakters der Hinrichtung politischer Gefangener im Sommer 1988 und Bestreiten des Geschehens. Protest gegen die Verwendung von Begriffen wie Massenhinrichtungen.

Der Staatsanwalt erklärte, der Angeklagte habe betont, dass selbst dann, wenn man die Tatsache der Hinrichtungen akzeptiere, es sich um korrekte Maßnahmen gehandelt habe. Er erklärte, dass der Angeklagte bei der Vernehmung der Vorwoche eine neue Erklärung zu den Hinrichtungen abgegeben habe. Diese Erklärung bezog sich auf die Worte (des aktuellen iranischen Präsidenten) Ebrahim Ra’issi, der verkündet hatte, dass gegen die Hingerichteten ein Todesurteil vorgelegen habe, das vom Obersten Gerichtshof des Landes geprüft, aber noch nicht vollstreckt worden sei.

Der Staatsanwalt ging dann etwas auf die Rechtsgeschichte des Irans im 20. Jahrhundert ein, auf das Wesen des heutigen religiösen Systems und wies darauf hin, dass der Iran keinerlei Interesse gezeigt habe, bei den Ermittlungen behilflich zu sein. Dafür habe der iranische Staat sehr reges Interesse an diesem Verfahren und er habe den Eindruck gewonnen, dass Hamid Nouri mit den Behörden in Kontakt stehe.

Hamid Nouri sei ein Anhänger des iranischen Systems und habe sich direkt um eine Arbeit im Revolutionstribunal beworben. Hamid Nouri benutze wiederholt Begriffe wie monâfeqin (Die Abtrünningen, damit bezeichnet die Regierung Anhänger der Volksmudschahedin), goruhak (Gruppierung, abschätzig für oppositionelle Gruppen)

Die Staatsanwaltschaft bestätigte, dass es eine „Fatwa“ von Chomeini gegeben habe, eine Anweisung, die Mitglieder der Volksmudschahedin zwischen dem 26. und 31. Januar 1988 hinzurichten. Die Ausführung dieser Fatwa war in rechtlicher Hinsicht verpflichtend. Chomeini betrachtete die Mitglieder der Volksmodschahedin als Feinde des Islams, die so schnell wie möglich hingerichtet werden müssten.

Vor Gericht habe Hamid Nouri behauptet, eine solche Fatwa existiere nicht. Er habe sie als „Brief ohne Quelle“ bezeichnet. Der Staatsanwalt sagte, er wisse nicht, was die aktuelle Haltung von Hamid Nouri zu dieser Frage sei, ob er inzwischen die Existenz dieser Fatwa zugebe oder nicht.

Was die Frage der Existenz der Fatwa angehe, hätten die Briefe von Montazeri Klarheit gebracht. Als Stellvertreter von Chomeini hatte er die Hinrichtungen kritisiert. In einem Brief an Chomeini und die Mitglieder der Todeskommission hatte er die Hinrichtungen als unvernünftig bezeichnet und verurteilt. Der Staatsanwalt wies darauf hin, dass Montazeris Sohn 2013 die Tonaufnahme des Gesprächs zwischen Montazeri und der Todeskommission veröffentlicht habe. Auf dieser Sitzung hätten die Mitglieder der Todeskommission ihre Tätigkeit verteidigt. Der Staatsanwalt fuhr weiter: „Niemand aus der Regierung hat die Existenz dieser Fatwa bestritten. Die Regierung hat sie lediglich geheim gehalten.“

Die zweite Hinrichtungswelle von 1988 betraf die Angehörigen linker Gruppen. Sie verlief ähnlich wie die erste Welle. Ob dazu eine Fatwa existiert, ist nicht gesichert.

Der nächste Punkt auf der Gerichtsverhandlung in Schweden war der Ort der Hinrichtungen. In Karaj (Karadsch) gab es damals zwei große Gefängnisse: das von Qezel-Hessar und das von Gouhar-Dasht. Die Gefangenen aus Qezel-Hessar, die hingerichtet werden sollten, wurden damals ins Ewin-Gefängnis nach Teheran oder ins Gouhar-Dasht-Gefängnis verlegt. Das Gefängnis von Qezel-Hessar wurde dann als ein Gefängnis für nicht politische Straftäter genutzt.

Als Beweise für die Ereignisse führte der Staatsanwalt an: „38 Kläger und 25 Zeugen haben ein knappes Bild von den Ereignissen im Sommer 1388 geliefert. Es handelte sich um Personen, die entweder selbst inhaftiert waren oder solche, die während der Hinrichtungswelle eine/n ihrer Angehörigen verloren haben.“

Zur Verteidigungsstrategie des Angeklagten:

„Ich war gerade im Urlaub“

Er gab an, dass er viele Jahre im Gefängnis gearbeitet habe, aber gerade zur Zeit der Hinrichtungen habe er Urlaub gehabt. Der Staatsanwalt meinte, dieser Urlaub konnte auf keinem Weg bestätigt werden.

„Ich war nicht in Gouhar-Dasht, nur im Ewin-Gefängnis“

Hamid Nouri gab an, er habe nur im Ewin-Gefängnis gearbeitet, aber nie im Gouhar-Dasht-Gefängnis. Dort habe er zwischen 1364 (1985) und 1372 (1993) nur etwa zehnmal „vorbeigeschaut“. Die Staatsanwaltschaft meint dazu, er mag ja im Ewin-Gefängnis gearbeitet haben, aber sie sei überzeugt, dass sein genauer Arbeitsplatz Ende 1365 (=Anfang 1987) das Gefängnis von Gouhar-Dasht gewesen sei. Seit Herbst 1365 hätten ihn zahlreiche Personen nicht mehr im Ewin-Gefängnis gesehen

„Sie verwechseln mich mit jemand anderem“

Hamid Nouri hat angegeben, dass er im Gefängnis von Gouhar-Dasht einer anderen Person mit Namen „Hamid Abbasi“ begegnet sei. Das sei die gesuchte Person im Sinne der Kläger und Zeugen. Der Staatsanwalt wies darauf hin, dass die Zeugenaussagen auch bei Wiederholung gleich geblieben seien, dass Fotos des Angeklagten vor der Verhandlung gezeigt wurden, dass den Gefangenen zwar Augenbinden umgelegt wurden, die Gefangenen aber das Gefängnispersonal an den Stimmen unterschieden und erkannt hätten.

„Die Hinrichtungen fanden in einem anderen Gefängnis statt“

Der Staatsanwalt widerlegte auch die Behauptung, dass fünf namentlich genannte Gefangene im Ewin-Gefängnis und nicht im Gouhar-Dasht-Gefängnis hingerichtet worden seien. Die Nachforschungen hätten eindeutig ergeben, dass deren Hinrichtung im Gouhar-Dasht-Gefängnis erfolgte.

„Die Genannten wurden gar nicht hingerichtet“

Da die Anwälte der Verteidigung von mehreren Gefangenen behauptet haben, sie seien gar nicht hingerichtet worden, hat die Staatsanwaltschaft hat auch die Ähnlichkeiten und Widersprüche der verschiedenen Quellen zu den Hinrichtungen ausgewertet und ist zum Schluss gekommen, dass eine Reihe von Hinrichtungen und der Ort der Vollstreckung (im Gouhar-Dasht-Gefängnis) eindeutig nachweisbar sind.

„Ich war dabei, aber nur als Zuschauer“

Der Staatsanwalt führte auch Beispiele an, in denen nachgewiesen ist, dass Hamid Nouri selbst Verhöre durchführte (AdÜ: im Iran in diesem Kontext gewöhnlich unter Anwendung von Folter). Hamid Nouri hatte behauptet, er habe nur als Zuschauer an den Verhören teilgenommen.

Zum Abschluss legte die Staatsanwaltschaft klar, wie sie die Identität von Hamid Nouri mit dem Justizangestellten Hamid Abbasi nachgewiesen habe, der im Ewin-Gefängnis und im Gouhar-Dasht-Gefängnis tätig gewesen sei. Ein Beispiel ist ein Vorfall, von dem der ehemalige Gefangene Mahdi Eshaqi berichtete. Er wurde von Hamid Nouri im Gefängnis zusammengeschlagen. Dabei sei der Ausweis des Angeklagten auf den Boden gefallen. Er habe einen Blick auf den Ausweis werfen können und gesehen, dass dieser auf Hamid Abbbasi ausgestellt war.

Ein weiteres Detail stammt von einem Kläger namens Rahman Darkeshide. Bei ihm handelt es sich um einen überlebenden Gefangenen, der seit seiner Kindheit in der Nachbarschaft von Hamid Nouri und seiner Familie lebte und ihn daher persönlich kannte.

Nachgewiesen ist auch, dass Hamid Nouri sich gegenüber einigen Gefangenen und Familienangehörigen selbst als Hamid Abbasi vorgestellt hat. Unter diesem Namen hatte er später auch einige überlebende Gefangene bedroht, als sie noch in in Gouhar-Dasht in Haft waren.

Auch das Telefon, dass Hamid Nouri bei sich trug, belegt, dass er Dritten gegenüber stets als Hamid Abbasi auftrete.

Überzeugungstäter?

Es fällt auf, dass Hamid Nouri sich von sich aus um die Stelle im Revolutionstribunal beworben hat, dass er das Vorgehen des Regimes verteidigt, dass er die Ausdrucksweise des Regimes übernimmt, und dass er selbst die Existenz der Todesfatwa Chomeinis in Frage stellt, was im Iran heute eher unüblich ist. Denn sogar Präsident Ra’issi, der selbst der Todeskommission angehörte, stellt nicht die Hinrichtungen in Frage, sondern behauptet einfach, sie seien rechtmäßig erfolgt.

Für jemanden, der anscheinend aus Überzeugung Mittäter der Hinrichtungen wurde, ist dieses Verhalten überraschend. Ein: Ja, ich habe es getan und ich stehe dazu, würde konsequenter erscheinen. Und genau da kommen die Interessen der iranischen Machthaber ins Spiel. Da der Prozess im Ausland stattfindet, geht es um das Image des Landes und der Islamischen Revolution. Diesem Image ordnet Hamid Nouri vermutlich seine persönliche Haltung unter. Es ist anzunehmen, dass er alles tun wird, um das bestehende Regime zu unterstützen. Es kann gut sein, dass die Verteidigungslinie seiner Anwälte letztlich mit Leuten aus dem Umkreis des Religiosen Führers Ajatollah Chamene’i abgestimmt ist und damit auch die außenpolitischen Konsequenzen dieses Prozesses im Detail bedacht werden. Die Anwälte der Verteidigung haben jedenfalls ihr Bestes getan, um an jedem Punkt der Anklage zu rütteln.

Taqiye

Dafür, dass Hamid Nouri seine persönliche Überzeugung diesem Taktieren unterordnet, gibt es im Schiitentum eine handfeste Glaubensbasis. Die Praxis der Taqiye. In Angesicht der Übermacht des Feindes ist jede Verstellung erlaubt, um das Überleben des Gläubigen und des Glaubens zu sichern. Vielleicht ist das der Schlüssel zum Verständnis für die eigenartigen Angaben von Hamid Nouri, der genau dann, wenn’s spannend wird, Urlaub gehabt haben will, zufälligerweise gerade im anderen Gefängnis Dienst tat und nur mal kurz vorbeischaute, und dann auch noch – welch Zufall – einen Doppelgänger am Ort des belastenden Geschehens gehabt haben will.

https://ir.voanews.com/a/eighty-eighth-session-hamid-nouri/6545396.html

vom 6. Ordibehesht 1401 (26. April 2022)

جلسه هشتادوهشتم دادگاه حمید نوری؛ ارائه کیفرخواست نهایی توسط دادستان‌ها

https://www.aljazeera.com/news/2022/5/2/iran-summons-swedish-envoy-over-illegal-trial-of-ex-official