IRAN: STREIKNACHRICHTEN

Interview mit einem Arbeiter der Gas- und Petrochemischen Industrie in Oslaviye
Auf die Frage, wie lange er schon in Oslaviye arbeitet, erklärt er, dass er schon 5 Jahre in dieser Region arbeitet. Seine Tätigkeit ist das Grundieren und Streichen von Anlagen, die instandgesetzt werden, sie entspricht also der eines Facharbeiters. Fünf Jahre sind anderswo keine so lange Zeit, er meint aber, bei der Hitze und den Arbeits- und Wohnbedingungen in Oslaviye sei das schon eine beachtliche Arbeitserfahrung. Er kenne wenige Leute, die schon länger hier arbeiten. Er ist selbst bei einer Leihfirma angestellt.

Auf die Frage nach den Forderungen der streikenden Leiharbeiter berichtigt er zuerst einige Fehlinformationen, die in den Medien aufgetaucht sind. Er weist darauf hin, dass es in Oslaviye keine Erdölraffinerie gibt, sondern eine Gasraffinerie, sowie Petrochemische Industrie. Was Berichte angeht, dass die Lohnforderung der Streikenden 12 Millionen Tuman betrage (auch wir hatten davon berichtet), bezeichnet er dies als Missverständnis. 12 Mio sei das absolute Minimum der Forderungen. In Wirklichkeit sei die Lage differenzierter. Es gebe drei Arten von Arbeitskräften in diesem Industriezweig: Dienstleistungsarbeiter (z.B. Reinigungskräfte), die im Monant 4-5 Mio Tuman verdienen. Sie verlangten 8 Mio Tuman. Dann die stärker spezialisierten Arbeitskräfte, z.B. die Bauarbeiter, die zwischen 7 und 8 Mio Tuman verdienen. Sie verlangen 12 Mio Tuman. Und schließlich die Spezialisten, z.B. Schweißer oder Leute wie er selbst, die monatlich 13 Mio Tuman verdienen und eine Erhöhung auf 17 Mio Tuman verlangen. Die Zulagen müssten separat verrechnet werden. Auch fordern sie auf 20 Arbeitstage 10 freie Tage im Monat. Derzeit sind es 24 Arbeitstage zu 6 freien Tagen im Monat – der Arbeiter verwendet das Wort moraxassi – Urlaub, aber gemeint sind freie Tage, entsprechend dem, was wir als freies Wochenende kennen. Dann kommt er auf die Lage in den Arbeiterwohnheimen zu sprechen, wo eine mörderische Hitze herrsche und auf die Arbeitsbedingungen.

Nasenreinigung mit Farbverdünner
So muss er nach stundenlanger Arbeit mit Farben am Abend seine Nasenschleimhäute mit Farbverdünner (pers. tiner) reinigen, um die daran haftenden Farbpartikel zu entfernen, weil sonst alles verklebt würde. Er sagt, dass er danach meist heftiges Kopfweh bekommt, das bis zu drei Stunden anhält. Was man aus seinen Worten schließen kann, ist folgendes: Die Arbeiter bekommen offensichtlich keine oder keine geeigneten Masken zur Verfügung gestellt, um mit Farben arbeiten zu können, ohne sich zu gefährden. Die Verwendung von Farbverdünnern auf der Haut ist nicht im Sinne des Erfinders, sie zeigt nur, wie Arbeitssicherheit in einem Land aussieht, wo Gewerkschafter vom Geheimdienst abgeholt und auf Jahre hinter Gittern gesperrt werden. Damit alle einen Eindruck bekommen, was im Iran als Farbverdünner im Gebrauch sein kann, haben wir die persische Wikipedia-Seite zum Stichwort tiner (von engl. thinner) aufgesucht. Die persische Wikipedia gibt dafür folgende Substanzen an:
Aceton (de.wikipedia: Auf der Haut verursacht Aceton Trockenheit, da es die Haut entfettet. Deshalb sollte man betroffene Stellen nach Kontakt einfetten. Inhalation größerer Dosen erzeugt Bronchialreizung, Müdigkeit und Kopfschmerz. Sehr hohe Dosen wirken narkotisch.)
Terpentinöl (de.wikipedia: Terpentinöl ist gesundheitsschädlich und umweltgefährdend.)
Naphtha (de.wikipedia: die verwendeten Gefahrzeichen zeigen an, dass dieses Lösemittelgemisch zielorganschädigend und umweltgefährdend ist)
Methylethylketon (MEK) = Butanon (de.wikipedia: mögliche Gefahr durch reproduktionstoxische Eigenschaften und als potentieller endokriner Disruptor)
Dimethylformamid (DMF) (de.wikipedia: Sowohl nach akuter, als auch nach chronischer Einwirkung, kann es zu einer Leberzellschädigung kommen.)
Ethylenglycolmonobutylether (de.wikipedia: Die Verbindung hat eine geringe akute Toxizität. Beim Menschen wurde nach oraler Exposition mit etwa 0,5 und 1,5 g/kg Körpergewicht und anfänglich schweren Symptomen eine vollständige Erholung beobachtet.)

Die Leiharbeiter in Oslaviye
Genaue Zahlen kann der Interviewte nicht nennen, aber er schätzt die Zahl der Leiharbeiter in Oslaviye auf 8000-10.000 Arbeiter. Den Anteil an Hilfskräften, Fachkräften und Spezialisten kann er nicht nennen, er zieht aber sein Arbeiterwohnheim heran, um zu zeigen, wie da diese drei Gruppen vertreten sind: Von 400 Arbeitern sind 200 Spezialisten, 150 Fachkräfte und 50 Hilfskräfte. Was die Beteiligung am Streik an geht, waren am Anfang 90% dieser Arbeiter im Streik, 10% gingen zur Arbeit. Das waren vor allem die Hilfskräfte, die am wenigsten verdienen, am dringendsten Geld brauchen und als erste rausgeworfen werden, weil für sie schnell Ersatz zu finden ist. Der Interviewte sagte, es sei schmerzhaft gewesen, mitansehen zu müssen, wie etwa 150 streikende Arbeiter den „Streikbrechern“ zugerufen hätten, sie seien „ehrlos“ (bi sharaf). Die Hilfskräfte haben sich inzwischen dem Streik angeschlossen, weil es vor Ort keine Arbeit gibt, so dass jetzt die Streikbeteiligung bei 100% liegt. Der Interviewte fand das Vorgehen der Kollegen gegenüber den Hilfsarbeitern unfair.

Die Arbeiterwohnheime
Der Interviewte beziffert die Zahl der Arbeiterwohnheime in der Region Oslaviye auf mehrere Hundert. Die Wohnbedingungen schildert er an seinem eigenen Wohnheim. Dort sind 400 Arbeiter in 40 Zimmern untergebracht, also 9 (eigtl. 10) Arbeiter pro Zimmer. Sie müssen auf dem Fußboden schlafen, der mit alten Teppichböden ausgelegt ist. Beim Schlafen ist es so eng, dass man leicht mal den Fuß eines andern am Kopf zu spüren bekommt. Im Wohnheim gibt es nur 4 Toiletten für 400 Personen und 5 Duschen! Die Arbeiter gehen um 6 Uhr zur Arbeit und kommen um 19:30 zurück. Wenn sie dann verschwitzt unter die Dusche wollen, haben sie höchstens 2 Minuten Zeit, weil hinter ihnen mindestens 10 weitere Arbeiter darauf warten, an die Reihe zu kommen. Es gibt auch andere Wohnheime für Ingenieure und für die fest angestellten Arbeiter. Dort seien die Wohnbedingungen deutlich besser.

Nahrung
Für die Verpflegung der Arbeiter ist der Arbeitgeber zuständig. Der Interview meint, man würde satt, aber eine Kantine gebe es nicht. Sie bekommen eine Plastiktüte in die Hand gedrückt und müssen einen Winkel finden, wo sie sich zum Essen hinsetzen können.

Kontakte unter den Arbeitern
Die Arbeiter eines Wohnheims arbeiten in verschiedenen Firmen, so dass ein gemeinsames Vorgehen zum Streik nicht so einfach ist. Aber im Laufe der Zeit kennen sich die Arbeiter verschiedener Wohnheime. Außerdem wurden verschiedene Kanäle bei Telegram und Whatsapp gegründet, allein der Kanal von Telegram in Oslaviye umfasst 4000 Arbeiter. Das erleichtert ein gemeinsames Vorgehen beim Streik.

Öffentliche Kundgebungen – der Rat des Imams
Auf die Frage, wieso es keine Kundgebungen im Rahmen des Streiks gab, sagte der Interviewte, das sei am Anfang sehr wohl geplant gewesen. Aber die Nachricht vom geplanten Streik sei nach außen gedrungen, worauf der Freitagsimam von Oslaviye die Vertreter verschiedener Wohnheime zu sich geladen habe, es waren etwa ein Dutzend, darunter auch der Interviewte. Der Freitagsimam sagte, er könne die Streikenden verstehen, es sei ihr gutes Recht, zu streiken, der Staat gebe den Firmen auch das nötige Geld, aber die steckten es in die eigene Tasche, statt damit die Arbeiter zu bezahlen. Der Imam warnte vor Kundgebungen, damit würden sich die Arbeiter selbst schaden, dann würde der BBC und andere Medien des Feindes darüber berichten und sie würden dem Feind in die Hände arbeiten. Der Interviewte gab dem Imam diesbezüglich keinerlei Versprechungen, er sagte, dafür habe er kein Mandat, und wenn die Arbeiter beschließen sollten, mit seinen eigenen Forderungen auf die Straße zu gehen, würde er sich ihnen anschließen.

Leere Wohnheime
Aus Gründen, die nicht näher erläutert wurden, kam die große Mehrheit der Streikenden zum Schluss, während des Streiks nicht in den Wohnheimen zu bleiben, sondern zu ihren Familien heimzufahren. Das führte dazu, dass die Busbiletts rasch ausverkauft waren und manche am Busbahnhof übernachteten, in der Hoffnung, am nächsten Tag die Heimreise antreten zu können. Im Heim des Interviewten blieben am ersten Tag nur noch 25 von 400 Arbeitern zurück, inzwischen sind es sogar nur 9. Das ist sicher auch eine Reaktion auf das Verhalten der Arbeitgeber. Diese stellten die Zufuhr von Trinkwasser ab, beendeten die Verpflegung mit Nahrungsmitteln, so dass die Arbeiter selbst Essen besorgen müssen, und jetzt drohen die Arbeitgeber damit, die Arbeiter zu entlassen und aus den Heimen rauszuwerfen. Der Interviewte ist deshalb nicht sehr beunruhigt. Er ist Spezialist und sagt, wenn der eine ihn rauswirft, findet er woanders was. Aber der Arbeitgeber werde so leicht keinen Ersatz für ihn finden.

Aussichten des Streiks
Der Interviewte ist optimistisch, dass der Streik erfolgreich endet. Er sagt, dass die Arbeitgeber sie zwar entlassen könnten, aber es gebe nur wenige Spezialisten. Seine Arbeit sei zum Beispiel zeitweise von französischen Arbeitern ausgeführt worden (was viel teurer ist!), und Leute, die im Iran unter Argon schweißen können, gebe es wenige. Diese Leute seien nicht einfach ersetzbar. Und da die Arbeiten der einzelnen Berufsgruppen miteinander verknüpft seien, nütze es auch nichts, die anderen rauszuwerfen, weil mit dem Fehlen der einen auch alle anderen Arbeiten nicht ausgeführt werden können. Außerdem müsse man bedenken, dass die Lohnkosten nur ein Gesichtspunkt für die Arbeitgeber seien. Die Waren, die in den Raffinerien und in der Petrochemie erzeugt werden, sind teuer und gewinnbringend. Ein Teil gehe sogar in den Export und erwirtschafte Devisen. Der Verzicht darauf sei für den Arbeitgeber viel schädlicher als ein Eingehen auf die Forderungen der Arbeiter.

https://www.akhbar-rooz.com/چرا-اعتصاب-کرديم-گفتگو-با-يک-کارگر-اعت
vom Freitag, 11. Tir 1400 (2.07.20219

https://fa.wikipedia.org/wiki/تینر

https://de.wikipedia.org/wiki/Aceton
https://de.wikipedia.org/wiki/Terpentin%C3%B6l
https://de.wikipedia.org/wiki/Naphtha
https://de.wikipedia.org/wiki/Butanon
https://de.wikipedia.org/wiki/Dimethylformamid
https://de.wikipedia.org/wiki/Ethylenglycolmonobutylether