Iran: Nachwuchs für die Diktatur

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Die Webseite peyekiran veröffentlichte am 15. Mai 2021 einen Bericht, der noch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie geschrieben wurde. Der Bericht gibt die Beobachtungen einer Inspektorin in Mädchenschulen wieder.

Das islamistische Regime definiert sich wesentlich dadurch, dass bestimmte Regeln, die von Geistlichen bestimmter Denkart im Iran für verbindlich erklärt werden, eingehalten werden. Es ist für die Machthabenden ein Indikator für die Anerkennung ihres Machtanspruchs, je besser es ihnen gelingt, die Gesellschaft zur Einhaltung dieser Regeln zu veranlassen. Da viele Regeln das Äußere von Frauen betreffen, stehen Frauen und Mädchen unter verschärfter Aufsicht des Regimes.

Die Frage ist, wie es das Regime schafft, seine islamistischen Regeln und damit sich selbst am Leben zu halten, obwohl sie damit eigentlich 50% der Bevölkerung, nämlich alle Frauen, gegen sich haben müsste. Der Bericht der Inspektorin wurde wohl mehr zu dem Zweck verfasst, die Unterdrückung der Schülerinnen durch das Regime anzuprangern, aber er liefert auch Einblicke, aus welchen Motiven Frauen und Mädchen sich selbst dafür einspannen lassen, die Politik der Regierenden durchzusetzen. Die religiösen Vorstellungen in der eigenen Familie und das Verhalten der Eltern ist hier leider nicht Thema, obwohl diese einen entscheidenden Einfluss auf unser Verhalten haben.

Der Struwwelpeter der Ajatollahs

Die Autorin berichtet von der ersten Schule, einer staatlichen Schule in der Umgebung von Teheran. Sie war dort als Inspektorin auf einer Versammlung von Eltern und Erzieherinnen/Lehrerinnen anwesend. Die Schulglocke läutet gerade und die Verfasserin beschreibt die Kleidung der Mädchen, die die Schule verlassen. In dieser Schule haben sie einen langen Umhängemantel in dunkler Farbe, die gleiche Farbe wie die langen Hosen, sowie ein über den Kopf gezogenes Tuch, das nur das enge Oval des Gesichts freilässt. Bunte Farben sind beim Regime verpönt, wie die Autorin schreibt.

In anderen Schulen geht es ein bißchen lockerer zu, da sind auch farbfrohere Varianten von Umhängemantel und Gesichtstuch zulässig. Die Ärmelumschläge und Taschen haben eine andere Farbe als der Mantel selbst. Mitunter ist auch ein Stoffband der gleichen Farbe auf das Gesichtstuch genäht, an der Stelle, wo sonst ein Haarreif sitzen könnte. Das sind die kleinen Freiheiten. Der Spass hört auf, wenn die Mädchen sich mehr erlauben, zum Beispiel lange Fingernägel oder lackierte und verzierte Fingernägel. So hat die Verfasserin erlebt, dass zwei Mädchen mit Ordnerbinde an der Türschwelle stehen, wenn die Mädchen morgens in geordneter Reihe die Schule betreten, und die Nägel der Mitschülerinnen inspizieren. Nur die dürfen in die Schule eintreten, deren Fingernägel die Kontrolle anstandslos passiert haben.

Wer zu lange Fingernägel hat, bleibt draußen, wer die Nägel lackiert hat, ebenfalls. Die mit den lackierten Fingernägeln werden mit Watte und Aceton traktiert, um den Lack zu entfernen, auf diejenigen, die zu lange Nägel haben, wartet die Nagelschere. Die iranisch-islamistische Version von Struwwelpeter.

Die Ungezogenen und die Schlauen

Dem Mädchen, dass diese Aktion überwacht, ist es gleichgültig, wenn die Betroffene dabei weint. Später spricht die Verfasserin das Mädchen, das beim Nagelschneiden als Aufseherin diente, auf ihre Rolle an und fragt sie, wie es denn dazu kam, dass gerade sie für diese Tätigkeit ausgewählt wurde.

Sie sagt: „Im Ordnerdienst sind zwei Gruppen. Die einen sind die Schlauen, die anderen sind wie ich diejenigen, die zu den „ungezogenen Kindern“ zählten. Auf diese Art (=durch die Einteilung zum Ordnerdienst) sollte ich „auf den richtigen Weg“ gebracht werden.

Die Verfasserin fragt darauf: „Und, hat es genützt?“

Sie sagt: „Ja, schon, ich war schließlich gezwungen, einige Dinge zu unterlassen, die ich früher gemacht habe.“

Die Mitschülerinnen – darunter auch die Tochter meiner Schwester – erzählen der Verfasserin, dass einige der Ordnerinnen die Gelegenheit nutzen, um mit bestimmten Personen ihre persönliche Rechnung zu begleichen, während sie bei engen Freundinnen alle Augen zudrücken.

Bis wir Menschen geworden sind

Die Verfasserin berichtet, wie zum dem Ende der Pause der Schulhof wieder leer wird. Sie geht durch die Gänge und hört die Stimmen der Lehrerinnen in den Klassenzimmern. Vor der Tür der Rektorin stehen einige Schülerinnen. Sobald sie zu flüstern beginnen, hört man die Rektorin protestieren. Die Verfasserin fragt die Mädchen, was sie da machen, wieso sie nicht in ihrer Klasse sind.

Die eine sagt: „Weil wir unsere Augenbrauen gezupft haben, müssen wir so lange hier stehen, bis sie wieder nachgewachsen sind.“ Und was dann mit ihrem Unterricht ist, will die Verfasserin wissen.

Sie antworten: „Nix.. wir bleiben eben zurück, bis wir „Menschen geworden“ sind..“ Die drei Mädchen lachen. Die eine sagt: „Und da geht es uns noch gut. Früher wurde uns ein Wischmopp in die Hand gedrückt und wir mussten die Gänge putzen. Das ist echt uncool.“ Die Verfasserin meint, sie an ihrer Stelle hätte sich schon längst verdrückt. Worauf die Mädchen antworten: „Dann merken sie, dass wir weg sind und wir bekommen eine schlechte Note im Betragen.“ Die Verfasserin schreibt: „Ich fühle mich in meine eigene Schulzeit zurückversetzt. Damals war es verboten, sich die Haare an den Lippen zu zupfen. In der Pubertät, wo man auf verschiedene Dinge so sensibel reagiert, hat dieser dunkle Schimmer an den Lippen das Selbstwertgefühl stark gemindert, und was für blöde Sprüche mussten wir uns wegen dieser Härchen nicht alles anhören!“

Leibesvisitation

Manchmal kommt es auch vor, dass die Vize-Rektorinnen mit dem Team der Ordnerinnen plötzlich im Unterricht einer Lehrerin auftauchen, alle aus dem Klassenzimmer schicken und in Abwesenheit der Mädchen ihre Taschen durchsuchen. Ziel ist es, Kosmetika, Handy und alle Arten von Mitteln der Verschönerung zu entdecken, die die Mädchen dabei haben. Mitunter zählt auch ein Handspiegel zu diesen Utensilien. Handy, Gold und andere Wertsachen werden nur den Eltern ausgehändigt, Kosmetika und Schmuck werden nicht mehr zurück gegeben. Dies bekommt die Verfasserin von Mädchen erzählt, die ohne Lehrerin im Schulhof sitzen. Sie fragt, wie oft das vorkommt. Ein Mädchen meint: „Wenn sie jemanden im Verdacht haben oder jemand ein Mädchen verpfiffen hat, dass sie ein Handy dabei hat. Aber das ist noch nicht alles. Manchmal werden wir sogar am ganzen Körper kontrolliert. Die Putzfrau der Schule muss dann sogar unsere Unterwäsche durchsuchen.

Die Verfasserin spricht mit der Putzfrau, eine ältere Dame. Sie schüttet ihr das Herz aus: „Schauen Sie, zu was ich jetzt am Ende meiner Tage noch gezwungen werde. Die selbst empfinden es als anstößig, aber mich schicken sie vor, damit ich die Mädchen am Körper durchsuche.“

Die Verfasserin fragt, was wäre, wenn sie sich weigern würde. Die Putzfrau sagt: „Das ist für die kein Problem. Wenn du nicht folgst, dann raus mit dir. Wir haben ja keine offizielle Anstellung. Draußen gibt es genug Menschen, die in Not sind (= auf eine Gelegenheit warten). Schauen Sie nur, ich muss die ganze Schule putzen, der Hausmeister macht höchstens mal den Schulhof.“

Das war schon immer so

Kein Haus im Umkreis hat Einblick in den Schulhof. Außer dem Hausmeister, der während der Schulzeit auch außer Hauses sein kann, ist kein männliches Wesen anwesend. Die Lehrerinnen, das Verwaltungspersonal, alle sind Frauen. Und trotzdem herrscht Schleierpflicht in allen Bereichen der Schule. (AdÜ: die theologische Begründung für die Schleierpflicht der Frauen ist ja, dass sie unbedeckten Haupts die Männer aufreizen würden.) Wer sich der Pflicht widersetzt, wir verwarnt.

Die Verfasserin spricht eine Vize-Rektorin an: „Die Flure und Klassenzimmer gehören ja nicht mehr zum Außenbereich. Warum dürfen die Schülerinnen da nicht frei entscheiden, ob sie das Kopftuch tragen wollen?“ Sie sagt: „So ist das Gesetz, das war schon immer so und ist jetzt so üblich. Das ist die Schuluniform, die muss getragen werden. Da ist kein Unterschied zwischen Hof und Klassenzimmer. Gesetz ist Gesetz. Außerdem kommen oft die Eltern der Kinder, es kommt eine Inspektion, und wir können nicht die ganze Zeit kontrollieren, ob die Kinder jetzt die Schleierpflicht beachten oder nicht. Deshalb ist der Schleier durchgehend Pflicht.“

Die Zähmung der Andersdenkenden

Es sieht so aus, als wäre die Lehrerin für Buchhaltung anderer Meinung. Sie sagt: „Ich überlasse es meinen Schülerinnen, ob sie das Kopftuch (Maqna‘e) im Unterricht ausziehen wollen. Aber es sind nur wenige, die das tun. In den zehn, zwölf Jahren, in denen ich an dieser Schule unterrichte, haben sie sich an diese Kleidung gewöhnt. So wie wir selbst uns auch daran gewöhnt haben.“

Die Verfasserin fragt: „Und was, wenn die Vize-Rektorinnen mitkriegen, das die Mädchen im Unterricht kein Kopftuch tragen? Kommt dann Kritik?“

Sie antwortet: „Gewöhnlich kümmern die sich nicht darum. Aber wenn jemand Meldung erstattet, kann es sein, dass ich Rede und Antwort stehen muss.“

Die Verfasserin fragt: „Wer kann denn Meldung erstatten?“

Sie antwortet: „Das Verwaltungspersonal hat in allen Klassen seine Spitzel. Das wird direkt von den Kindern verlangt. Selbst die Lehrerinnen werden aufgefordert, Disziplinarverstöße der Schülerinnen zu melden. Bespitzelung ist in den Schulen eine geläufige und übliche Praxis geworden. Du weißt, dass du immer und überall unter Beobachtung stehst.

Die Verfasserin fragt die Lehrerin, ob sie selbst während des Unterrichts das Kopftuch schonmal abgenommen hat. Sie verneint: „Nein, um die Wahrheit zu sagen, die Schülerinnen kommen damit nicht zurecht. Sie haben sich daran gewöhnt, ihre Lehrerinnen mit Kopftuch zu sehen. Wenn du es abnimmst, bricht Chaos aus, dann kriegst du die Klasse nicht mehr gebändigt. Und dann wird auch noch alles gleich verpfiffen, da wird man dann zur Rechenschaft gezogen. Das alles bringt mich zum Schluss, dass es sich nicht lohnt.“

Quelle:

https://www.peykeiran.com/Content.aspx?ID=228204
vom 25. Ordibehesht 1400 (15. Mai 2021)