Iran: Aus einem zerfallenden Staat

Zwei angesehene sunnitische Geistliche aus der im Süden des Irans gelegenen Provinz Sistan und Balutschistan haben sich auf der Webseite des Fernsehsenders Kaleme, der von Sunniten betrieben wird, zum Verhältnis Staat und Untertanen geäußert.

Staat ohne Bürger

Bürger ist für den Iran wohl der falsche Begriff. Denn für die Machthaber gibt es die eigene Klientel, deren Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen – die Getreuen samt ihren Familien, und den Rest. Der Rest darf zwar in den Wahlen einen Stimmzettel abgeben, aber die Auswahl begrenzt vorher der Wächterrat, und das Ergebnis nachher der Religiöse Führer. Das Selbstbewusstsein der Bürger in westlichen Demokratien ist mit durch das Bewusstsein bestimmt, dass „wir“ die Steuern zahlen und dadurch den Staat finanzieren. Im Iran gibt es die Erdölrente, die derzeit massiv beschnitten ist, und Unternehmen dienen vor allem dazu, Getreue zu belohnen, aber nicht dazu, gewünschte Produkte effizient herzustellen. Die Zahl der Arbeitslosen ist hoch, die Arbeitenden arbeiten oft im informellen Sektor, wo eine Besteuerung ohnehin schwer ist. Und die Reichen wissen ohnehin, wie sie Steuern vermeiden können. Deshalb gibt es im Iran keine Bürger.

Was ist geschehen?

Laut lokalen Zeitungsberichten – so berichtet peykeiran – sind die drei Brüder Nawab, Khodadad und Ahmad Mohammadi aus dem Dorf Abadan im Landkreis Iranschahr in einen Hinterhalt der Polizei geraten, die auf Drogenhändler lauerten, und wurden dabei „aus Versehen erschossen“, wie die Behörden sagen. Einige der lokalen Medien berichteten sogar, die drei Brüder hätten den Bassidschi-Milizen angehört, die den Revolutionswächtern unterstehen. Die Behörden drängen darauf, die Ermittlungen gegen die Todesschützen einzustellen.

Proteste

Moulawi (Mofatti?, Mofti?) Hanif Hossein-Zehi, sunnitischer Schriftsteller und Übersetzer – und, wenn man der Überschrift glauben darf, auch Geistlicher, erklärte zu dieser Erschießung: „Wir haben keine Sicherheit im Land. Sogar Kräfte des Staates werden von anderen Kräften und Organen des Staates umgebracht. Ein Staat, der sich die Verteidigung der Unterdrückten in Palästina, im Irak und in Syrien auf die Fahnen geschrieben hat,  bietet uns nicht einmal Sicherheit in der eigenen Stadt. Heute hat ein Massaker begonnen, um eine ganze Generation auszulöschen.

Moulawi Abdurrahman Omar-Zehi, Freitagsimam der Hassanin-Moschee (Hosseinin?) in Iranschahr erklärte dazu: „Unser Volk wird heute unterdrückt, das Blut der Balutschen wird von den Beamten des Staates selbst vergossen.“ Und weiter: „Wir haben drei junge Männer, drei Brüder aus einer Familie verloren. Diese drei Brüder wurden nicht von Dieben, Räubern, bewaffneten Typen oder Banditen ermordet, sondern von den Polizeikräften des Staates. (…) Angesichts dessen, dass irrtümlich geschossen wurde, wollen die Beamten jetzt die Akten schließen. Aber wenn die Kinder von Amtsträgern erschossen wären statt die einer balutschischen Familie, wenn dieses Feuer im Hause eines der Machthaber eröffnet worden wäre, hätten die so eine Entschuldigung akzeptiert?“

Nationalismus

Der nationalistische Ton mit einem gewissen Maß an Übersteigerung ist deutlich zu spüren. Und so sieht man, wie ein Nationalismus den nächsten Nationalismus erzeugt. Nämlich der persische, den die Ajatollahs unbesehen aus der Schahzeit übernommen haben, der nun einen balutschischen Nationalismus hervorruft. Zwar verhüllen die Ajatollahs ihren Nationalismus mit der Idee der religiösen Gemeinschaft, der Umma, die angeblich alle Menschen gleich umfasst. Aber sie führen die Unterdrückung sprachlicher Minderheiten weiter und verfolgen die religiösen Minderheiten, auch die Sunniten. In einem Staat, in dem zahlreiche Minderheiten grenznah leben – Kurden, Aserbaidschaner, Turkmenen, Balutschen, Araber – ist das ein Vorgehen, dass langfristig Unfrieden stiftet. Die Türkei hat mit der Unterdrückung der Kurden und Aleviten auch nur erreicht, ihre Grenzen zum Iran, nach Syrien und Irak langfristig instabil zu machen, und mit der langjährigen Unterdrückung der kurdischen Sprache hat sie ein übergreifendes kurdisches Bewusstsein geschaffen, das so als Gegenstück des türkischen Nationalismus erscheint.

Der Taufpate des Nationalismus

Verlieren wir dabei nicht aus den Augen, dass dieser Nationalismus und die Schaffung von Nationalstaaten im Nahen Osten ein Reflex und eine Nachahmung des europäischen Nationalismus ist. Atatürk war Nachahmer Frankreichs, was die Bildung eines Nationalstaats anging, und ohne den europäischen Nationalismus und die Machtergreifung der Nazis wäre die Gründung eines Staates Israel keineswegs sicher gewesen. Das hatte im Nahen Osten eine ganze Gründungswelle von Neustaaten zur Folge, ob Jordanien, Irak oder Syrien. Wir ernten noch immer, was die europäische Romantik einmal gesät hat: Die Idee vom Volk, seien es die Märchen der Gebrüder Grimm und Volkslieder in ihrer lieblichen Form, oder sei es eben die Variante von Blut und Boden, ein Volk ein Führer.

Quellen:

https://www.kalemeh.tv/1399/09/29090/
vom 15. 9. 1399 (5. Dezember 2020)
خودزنی نیروهای امنیتی ایران؛ واکنش علمای ایرانشهر به کشته شدن سه برادر بلوچ عضو سپاه توسط نیروهای لباس شخصی

https://www.peykeiran.com/Content.aspx?ID=219327
vom 16. Adhar 1399 (6. Dezember 2020)
اعتراض دو روحانی برجسته اهل سنت سیستان و بلوچستان به کشتن سه جوان بلوچ توسط پلیس


ایران؛ اعتراض دو روحانی برجسته اهل سنت بخاطر کشته شدن سه شهروند بلوچ توسط پلیس
vom 6. Dezember 2020