Iran: Die Töchter der Revolutionsstraße

Gastbeitrag von Atoosa, 2.4.2018

In diesem Jahr fiel der erste Tag des Sonnenkalenders, der erste Frühlingstag, auf den 20. März. Im Iran und in den Communties in Zentralasien und dem Nahen Osten feierten die Menschen aller Nationen und Religionen das neue Jahr mit Ritualen und Symbolen des Frühlings, der Familie und des Essens, so wie sie es seit über 3000 Jahren tun. Wenn wir das vergangene Jahr Revue passieren lassen, so stellen wir fest, dass es eine Menge Konfrontationen zwischen den Bürgern und der Regierung gegeben hat, durch die ganze iranische Gesellschaft hindurch und vor allem bei den Frauen, die ein Wiedererstarken des Mutes und der Kühnheit ihrer Proteste unter Beweis gestellt haben.

Am 27. Dezember 2017 machte Vida Movahed eine Geste in einem stillen Protest, die viral werden sollte. Sie stand auf einer Kiste in der Revolutionsstraße in Teheran, nahm ihr Kopftuch ab, band es an einen Stock und schwenkte es schweigend wie eine Fahne. Die obligatorischen Bekleidungsvorschriften im Iran verlangen von allen Frauen ab der Pubertät den Hijab zu tragen.

Dieser Protest folgt auf das, was als „Weißer Mittwoch“ bekannt geworden ist, einer Bewegung, die durch die Kampagne „Meine heimliche Freiheit“ gegen Zwangsverschleierung für Frauen entfacht wurde. Frauen fotografieren und filmen sich selbst, während sie weiße Kopftücher tragen als Symbol des Protestes; manchmal wagen sie es, ihr Kopftuch vollständig zu entfernen. Bald nach Vida’s Protest (und nach ihrer Verhaftung und ihrem anschließendem einmonatigen Verschwinden) haben Frauen im Iran nachgezogen und standen ebenfalls auf Plattformen, in der Öffentlichkeit, ihre Köpfe entblößt und schweigend ihr Kopftuch schwenkend.

Ihre Proteste gingen in sozialen Medien viral, mit Hashtags auf Persisch, die sie als „Die Töchter der Revolutionsstraße“ betitelten. Von Außen betrachtet oder von jemandem der sich wenig mit dem Iran auskennt, scheint die Geste auf den Bildern, mit Frauen, die oft am Rande von stark frequentierten Straßen stehen, inmitten von starkemVerkehr und zahlreichen Passanten, fast inadäquat oder, wie der iranische Religiöse Führer Khamenei es beschrieb, „unbedeutend“ zu sein.

Aber die Frauen im Iran wissen sehr genau, was diese scheinbar kleinen Trotzakte bedeuten können; mindestens 30 Männer und Frauen wurden nach den friedlichen Protesten verhaftet, davon einige verurteilt und ins Gefängnis geworfen mit Veruteilungen wegen „Die Menschen ermutigen, sich an Korruption zu beteiligen, indem sie den Hijab in der Öffentlichkeit entfernen“ und „Eine verbotene Handlung im öffentlichen Raum zu begehen“.

Die Töchter der Revolutionsstraße standen in der Öffentlichkeit und riskierten ihre Freiheit, obwohl sie die Gefahr der Verhaftung kennen, die der Verletzung der zarten „Ehre“ des Regimes auf den Fuß folgen. Und warum standen Frauen, die den Hijab aufgrund ihres persönlichen Glaubens tragen, ebenfalls auf Plattformen und protestierten?

Die Töchter der Revolutionsstraße und die zahllosen Frauen, die seit der Revolution von 1979 protestieren, ziehen eine klare Grenze zwischen den religiösen Edikten und dem Recht des Individuums auf freie Wahl. Sie protestieren nicht gegen den Hijab, sondern gegen den Zwang und die Unterdrückung und die Entmündigung von Frauen. Die Freiheit zu wählen, was man trägt, was man denkt und fühlt, ist ein Verlangen, das keine geographischen Grenzen kennt. Und die Frauen Irans wollen auch frei sein.

Wenn das letzte Jahr für Frauen im ‚Westen‘ ein Jahr des #MeToo war und des Erkennens und Wiedereinführens von Grenzen, dann war es für Frauen im ‚Osten‘ ein Jahr des Kampfes und des Protests für ihre grundlegenden Menschenrechte. Im ‚Westen‘ ringen wir oft mit Diskussionen über Identität, Religion und wie diese mit den Menschenrechten und insbesondere den Frauenrechten interagieren (obwohl Nawal El Saadawi sagen würde: Wer sagt das?).

Wir können versuchen, auf Proteste wie die der Töchter der Revolutionsstraße nicht nur für unsere Inspiration, sondern auch für unsere Klarheit zu schauen. Klarheit bezüglich der Universalität der Menschenrechte: dass Frauen überall und in jeder wahrgenommenen Kultur oder Religion die gleichen Freiheiten beanspruchen. Aber es zeigt auch die Notwendigkeit einer klaren Trennung zwischen Religion und der Gesellschaft als Ganzes: dass keine Frau ein Symbol oder ein Archetyp ist, sondern ein Individuum, das eine komplexe Beziehung zu seinem Gott hat – oder auch nicht.

Wir sollten in diesem neuen Jahr laut in die Parolen der „Töchter der Revolutionsstraße“ einstimmen und in ihre Rufe nach universellen Menschenrechten.

Atoosa ist Jurastudentin und arbeitet für eine Menschenrechtsorganisation. Sie interessiert sich für Gesetzgebung zu Menschenrechten und Fragen der Sicherheit, des Säkularismus und der Religion.

Quelle: http://www.sedaa.org/2018/04/iran-the-girls-of-revolution-street/