Proteste im Iran: Wissen und Schein

Während der Proteste zum Jahreswechsel in zahlreichen iranischen Städten war es schwierig festzustellen, was geschah. Einfache Fragen waren nicht zu beantworten:
Wieviele Menschen nahmen in der jeweiligen Stadt an einer Kundgebung teil?
Was waren ihre Forderungen?
Welchen Altersgruppen, Berufsgruppen oder Volksgruppen gehörten sie an?
Waren Männer und Frauen gleich stark vertreten?
Sind die Meldungen über die Proteste zumindest in Bezug auf die Orte vollständig?
Sie waren aus mehreren Gründen nicht zu beantworten.
1. Inländische Medien (Zeitung, Radio, Fernsehen) im Iran können nur dann einigermaßen ungehindert berichten, wenn sie den Fundamentalisten oder den Reformisten nahestehen. Da die Proteste sich anscheinend gegen beide richteten, war eine neutrale Berichterstattung aus diesen Medien nicht zu erwarten. Totschweigen ist noch immer ein beliebtes Mittel, um Proteste unter den Tisch zu kehren.
Untergrundgruppen brauchen länger, bis sie ihre Aktivisten vor Ort erreicht haben und von denen Näheres erfahren.
2. Neue Medien, Weblogger und Nachrichtenaustausch über Whatsapp, Telegram und andere Netze spiegeln eher die Vielfalt der Meinungen wieder, es ist aber schwierig festzustellen, was davon auch die Meinung anderer widerspiegelt und was rein persönlich ist.
3. Stellen wir uns eine konkrete Kundgebung vor: In Sanandadsch gehen Menschen auf die Straße, eine Jugendliche hat ihr Handy dabei und nimmt ein kurzes Video auf, das sie später ins Internet setzt. Wir finden das Video und hören die Parolen, die gerufen werden.
Frage: Was wird die Jugendliche aufgenommen haben – Szenen und Rufe, die ihre Meinung wiedergeben?
Parolen, die aus dem üblichen herausragen und deshalb besonders auffällig sind?
Einen Querschnitt von allem, was sie in ihrem kleinen Ausschnitt des Geschehens beobachten konnte?
Wir sehen nur das Video, wissen nicht, wer es aufgenommen hat, und können folglich nicht feststellen, welche Kriterien diese Person bei der Auswahl hatte.
Multiplizieren wir das nun mal Hundert, wird die Zahl der Videos größer, die Ungewissheit aber nicht geringer.
Aus diesem Grund ist es zwar richtig, wenn man darauf hinweist, dass sich diesmal viele aufgenommenen Parolen gegen das islamistische System richteten, aber das sagt nichts darüber aus, was die Auffassungen der Mehrheit der Protestierenden sind. Interpretationen, die auch wir auf unserer Webseite veröffentlicht haben, stehen also auf recht schwankendem Boden.
Das sollte uns allen bewusst sein.